Einleitung:
Als gut dokumentiert gelten in westlichen europäischen Ländern sinkende Mortalität und steigende Lebenserwartung. Diese Veränderungen bedeuten aber nicht automatisch eine gesündere Bevölkerung. Die sozialepidemiologische Forschung befasst sich demnach nicht nur mit den Ursachen längeren Lebens, sondern auch mit den Determinanten einer behinderungsfreien Lebenserwartung. Von Interesse sind in diesem Zusammenhang Prozesse sozialer Selektivität und kulturelle Unterschiede im Ländervergleich. Beide Faktoren sind Teil des bio-psycho-sozialen Modells geriatrischen Handeln.
Einleitung:
Seit den frühen 1980er Jahren ist mit dem von James Fries eingeführten Konzept der Kompression der Morbidität die Frage der Lebensqualität im Alter in das Zentrum sozialmedizinischer Forschung gerückt. Die neueren Forschungsarbeiten – und dazu zählt die hier referierte – fokussieren auf sozial-strukturelle Einflüsse. Untersucht wird, welche sozialen und kulturellen Merkmale eine aktive Lebenserwartung und damit die Kompression der Morbidität begünstigen bzw. einschränken. Daraus entstehen neue Anforderungen sowohl an die klinische Altersmedizin als auch an Versorgungssysteme und Public Health.
Methode:
Für die Untersuchung wurden zwei Daten-Sets herangezogen. Die Mortalitätsdaten wurden aus dem EURO-GBD-SE Projekt gezogen, in welchem Daten zur Mortalität in Europa gesammelt sind. Die Gesundheitsdaten basieren auf Befragungen der EU-SILC-Erhebung (European Union Statistics on Income and Living Conditions). Einbezogen wurden in die Studie acht europäische Länder: Finnland, Norwegen, Litauen, Belgien, Österreich, Frankreich, Spanien, Italien. Gemessen wurden Mortalitätsrate und behinderungsfreie Lebenserwartung an der Gruppe der 30-79-Jährigen. Als Gesundheitsindikator wurde der Global Activity Limitation Indicator (GALI) verwendet. Dieser wird mit einem Item erfasst: Sind Sie in den letzten 6 Monaten in ihren Alltagsaktivitäten aufgrund gesundheitlicher Probleme eingeschränkt gewesen? Ja, sehr stark; ja, moderat; nein.
Resultate:
Die Datenanalyse zeigt für Litauen die niedrigste behinderungsfreie Lebenserwartung (33 Jahre für Männer und 39 Jahre für Frauen) und die höchste für Italien (42,6 Jahre für Männer und 44,4 Jahre für Frauen). In allen untersuchten Ländern sind sowohl die Lebenserwartung insgesamt als auch die behinderungsfreie Lebenserwartung bildungsassoziiert. Am geringsten wirken sich Bildungsunterschiede in Italien auf die Lebenserwartung aus, am stärksten in Litauen. Bezogen auf die behinderungsfreie Lebenserwartung zeigen sich starke Unterschiede nach Bildungsstufen in Litauen, Österreich, Finnland und Frankreich. Männer ab Maturaniveau haben im Vergleich zu Pflichtschulabgängern eine um 7 Jahre höhere behinderungsfreie Lebenserwartung.
Diskussion:
Die Studie untermauert Ergebnisse anderer Forschungsarbeiten, die auf einen starken Zusammenhang zwischen sozio-ökonomischen Status und Lebenserwartung hinweisen. Höher gebildete Europäer (d.h. längere Schulbildung) können sowohl erwarten, dass sie länger leben als auch, dass sie dieses längere Leben gesund verbringen. Neu sind die starken Unterschiede, die sich im Ländervergleich zeigen – und das auch für Länder mit sehr hohem Wohlstand. Deutliche sozial-selektive Effekte finden sich für Litauen, Norwegen und Österreich. Allerdings wirken sich die sozialen Unterschiede in Litauen stärker auf die Lebenserwartung insgesamt aus, während in Österreich diese Unterschiede weniger in der Lebenserwartung an sich gegeben sind, sondern in der behinderungsfreien Lebenszeit.
Literatur:
Mäki N, Martikainen P, Eikemo T, Menvielle G, Lundberg O, Östergren O, Jasilionis D, Mackenbach, JP
Educational differences in disability-free life expectancy: a comparative study on long-standing activity limitation in eight European countries
Social Science & Medicine 2013; 94: 1-8
Rezensent:
Univ.-Prof. Dr. Franz Kolland
Institut für Soziologie
Rooseveltplatz 2
1090 Wien
Tel.: +43 1 4277-48123
E-Mail: franz.kolland@univie.ac.at
Internet: www.soz.univie.ac.at/franz-kolland